Im Sommer 2006 gelang Gregor Seyffert & Compagnie nach vier Jahren Vorbereitungszeit die Uraufführung des außergewöhnlichen Cross-Genre-Spektakels „Marquis de Sade“ in der gewaltigen Industriekathedrale des Kraftwerkes Vockerode an der Elbe. Ausgangspunkt dieser Inszenierung bildet die Auseinandersetzung mit der „Entfesselung menschlicher Triebhaftigkeit und sexueller Grausamkeit im Zustand des gesellschaftlichen Vakuums“ am Beispiel des „Wirkens“ des D.A.F. Marquis de Sade (1740-1814) – dem „Bluthusten der europäischen Kultur“.
De Sade hasste die Monarchie, den Klerus und den Staat, der den menschlichen Willen kettet und statuierte seinen Ekel und seine Abneigung gegen die Gesellschaftsheuchelei in trotzigen, menschenverachtenden Exzessen orgiastischer Gewalt. Die Überschneidung zu den Schriften de Sades, in denen er u.a. Vorschläge unterbreitet, wie ‘man zur Füllung monarchistischer und ministerieller Taschen das Land entvölkern und das Elend steigern müsse’, geben dieser Arbeit einen lustvollen Reiz an der Sezierung heutiger politischer „Höllenbilder“. Aber im eigentlichen Sinn war de Sade ein schonungsloser Analytiker, ein ehrlicher Pessimist, der ‚das Schuttgeröll des Aberglaubens und der Doppelmoral auf allen Gebieten wegräumte‘ und klipp und klar darlegte, daß nicht ’normale‘ Ausnahmenaturen, sondern die allermeisten Menschen zu harter Bestialität veranlagt sind; daß sexuelle Verderbtheit die Brutstätte aller Laster (Grausamkeit, Raubsucht, Verlogenheit, Feigheit, Faulheit) bei ihnen bildet, sobald Luxus, Wohlleben und vor allem Mangel an Ablenkung ihnen dazu Zeit und Raum gewähren. Insofern hat de Sade dem allgemeinen Sadismus die Wahrheit gesagt.
Um diese inneren Zustande sinnlich und zeitgemäß zu übersetzen, läßt Seyffert bildgewaltige und akustische Gegensätze aufeinanderprallen: Den fragilen Elementen des Tanzes läßt er martialischen Aktionismus gegenübertreten; der Musik des 18. Jahrhunderts (N. Paganini, G.F. Händel) stellt er große symphonische Werke, Dark-Metal und industrielle Soundarrangements entgegen. Die Besetzung aus Artisten, Aktionskünstlern, Tänzern und Schauspielern läßt das kraftvolle, abenteuerliche Gesamtkunstwerk erahnen. Mittelpunkt bildet die Figur des Marquis de Sade (Gregor Seyffert), zu deren Versinnbildlichung Seyffert einen zusätzlichen ‚Drive‘ gibt, in dem er das Leben de Sades rückwärtsgewandt der Geburt entgegen auseinandernimmt, und somit dem unwiderruflich ‚verkümmernden Verlauf des Menschenlebens‘ ein lebensbejahenden Akzent gibt: De Sade beginnt sein Leben in der Heilanstalt, erprobt sich in Einsamkeit und an allerlei bestialischen Fingerübungen, die ihn für das Leben als Jungbrunnen und Kind rüsten, um in Unschuld geboren zu werden und wenig später dem entscheidenden Orgasmus entgegenzueilen.